125 Jahre Heilsarmee in Hannover

Gemeinsam lachen und Sorgen teilen – Beziehungen leben

„Es ist ein chaotisches Leben“, erklärt Leutnantin Christine Tursi. Es ist ein hartes Leben, manchmal finden große Teile des Lebens auf der Straße statt, Armut ist ein ständiger Begleiter und die Frage, wie lange es so weitergehen kann. Es ist das Leben im Rotlichtmilieu in Hannover.

Christine Tursi leitet das Korps Hannover der Heilsarmee in Deutschland und hat es sich seit Herbst 2019 zur Aufgabe gemacht, die Familien im Rotlichtmilieu zu unterstützen. Neben der Arbeit im Rotlichtmilieu ist auch die Obdachlosenhilfe ein wichtiger Teil des Einsatzes des Korps Hannover. Schon seit 125 Jahren sind Heilsarmeesoldaten und Ehrenamtliche des Korps in Niedersachsens Hauptstadt aktiv und kommen dem Grundsatz der Heilsarmee nach: das Evangelium von Jesus Christus zu predigen und menschlicher Not ohne Ansehen der Person zu begegnen.

Ein Blick zurück

Am 07. Oktober 1896 wurde das Korps Hannover durch Kapitän Yelin in der Marschnerstraße 10 gegründet. Trotz der Widrigkeiten der beiden Weltkriege erstarb der Einsatz für Menschen nicht. Einige Male zog das Korps um, bis schließlich am 11. August 1962 Am Marstall 25 der neue Korpssaal eingeweiht wurde, der auch heute noch als Gemeindegebäude dient. Anfangs begann das Wirken des Korps hauptsächlich evangelistisch durch Gottesdienste und Predigten. Mit der Zeit und den Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur Hannovers, passt das Korps auch die Hilfsangebote an die jeweiligen Nöte der Stadt an. So wurde beispielsweise 1903 eine Trinker-Rettungs-Brigade ins Leben gerufen und ebenso sind auch die Besuche der Familien im Rotlichtmilieu eine Antwort auf eine aktuelle Not.

Eine interessante Chronik „Von der Gründung bis Heute" finden Sie hier.

125 Jahre sind eine lange Zeit und an einem solchen Jubiläum schaut man gerne auf die gemeisterten Herausforderungen der Vergangenheit zurück. Die Corona-Pandemie ist eine solche Herausforderung, die vor allem in der Obdachlosenarbeit zu spüren war. Die Kleiderkammer und die Essensausgabe mussten umgestaltet werden, sodass nicht mehr große Mengen an Bedürftigen gleichzeitig versorgt werden konnten. Doch gerade durch diese Entzerrung wurde der Fokus immer mehr auf intensive Beziehungen gelegt. „Besonders in der Winterzeit wollen wir ein Ort zum Aufwärmen und zur Gemeinschaft sein“, so Leutnantin Tursi.

„Wir teilen Leben“

Beziehungen zu den Bedürftigen aufzubauen und zu pflegen ist das wichtigste Instrument, um Menschen nachhaltig zu helfen. Das hat Christine Tursi, die seit 2018 das Korps leitet, aus eigener Erfahrung gelernt: „Es ist schön, Menschen bei sich einzuladen, aber es ist so viel wichtiger, selbst zu den Menschen zu gehen, mit ihnen zu reden, Beziehung zu haben.“ Seit 2019 besucht sie die Familien im Rotlichtmilieu. Sie hört ihren Sorgen zu, fragt nach ihren Ängsten und Hoffnungen. Sie sprechen über Träume und ganz reale Schwierigkeiten. „So sind richtige Freundschaften entstanden“, erzählt die junge Leutnantin, „Wir lachen zusammen, ich tröste sie bei schwierigen Momenten – wir teilen Leben!“
Von Anfang an wurde das Angebot von Christine Tursi und ihrem sechsköpfigen Team voll Freude angenommen. Genau diese Hilfe haben die Familien gesucht und es ist die Antwort auf eine große Not im Rotlichtmilieu.

Doch wie sieht ein Leben im Rotlichtmilieu überhaupt aus?

Es ist eine ganz andere Welt. „Es ist ein chaotisches Leben“, erklärt Leutnantin Christine Tursi. Es ist ein hartes Leben, manchmal finden große Teile des Lebens auf der Straße statt, Armut ist ein ständiger Begleiter und die Frage, wie lange es so weitergehen kann. Häufig kommen zuerst die Frauen aus armen Verhältnisse nach Deutschland. Die einzige Möglichkeit ist, sich als Prostituierte zu verkaufen und mit dem verdienten Geld die Familie nachzuholen. Doch häufig sieht die Familie sich mit zu vielen Problemen konfrontiert, die sie nicht so einfach lösen können. Sie verstehen die neue Sprache nicht, sie verstehen nicht, wie man Sozialleistungen erhält, welche Anträge wie ausgefüllt werden müssen, wie man ihre Kinder bei der Schule anmeldet, wie man eine Arbeit in Deutschland findet. Die Frauen haben keine Wahl, und keine Wahl zu haben bedeutet Zwang. „Keine einzige Frau, die ich hier getroffen habe, macht das freiwillig! Keine!“, sagt Christine Tursi bestimmt. Auch viele Männer kommen mit der Situation nicht zurecht und häufig versinken sie in einer Abwärtsspirale aus Drogen und Alkohol.
Christine Tursi und ihr Team begegnen den Frauen und Männern nicht mit Vorwürfen oder unrealistischen Ratschlägen. Sie hören zu und unterstützen die Familien mit Hilfe zur Selbsthilfe. So erreichten sie bereits, dass Kinder ohne bisherige Bildungsmöglichkeiten endlich eingeschult wurden und das Wohnungen, die fast geräumt werden mussten, doch noch erhalten geblieben sind. Vor allem die Kinder sollen nicht zur nächsten Generation dieser Missstände werden.

Ein Licht sein

Leutnantin Christine Tursi ist auch in erster Linie eine Pastorin und das Korps Hannover eine christliche Gemeinde. Darum ist das Erzählen von Jesu Botschaft ebenfalls eine wichtige Aufgabe des Korps. Schnell wurde klar, dass auch die Familien im Rotlichtmilieu sich nach der Liebe Gottes sehnen. „Wenn du eine Pastorin bist, sei doch bitte auch unsere Pastorin“, baten sie Christine Tursi. So begannen erst kleine Hausgemeinschaften und als die Teilnehmerzahl stetig wuchs, wurde der zweisprachige Gottesdienst auf deutsch und bulgarisch eingeführt. Etwa 20 Teilnehmer besuchen zurzeit regelmäßig den bunten und kreativen Gottesdienst, in dem viel zusammen gesungen und gebastelt wird.

Die Kinder liegen dem Korps und Christine Tursi ebenfalls auf dem Herzen. „Wir wollen ein Licht für die Kinder in Hannover sein“, erklärt Christine Tursi den schönen Namen „Leuchtturmprojekt“ des Kinderprogramms. Hier gibt es eine Hausaufgabenhilfe und viele verschiedene Spiele. Außerdem finden zweimal im Jahr besondere Ferienwochen statt. Die Kinder sollen integriert werden und einen Ort der Geborgenheit und Gemeinschaft erleben. Durch die Arbeit mit den Kindern können die Familien begleitet und Perspektiven außerhalb des Rotlichtmilieus aufgezeigt werden.

Leutnantin Christine Tursi, das Korps und alle Mitarbeitenden leisten eine wertvolle Arbeit in Hannover und führen 125 Jahre Heilsarmee in Hannover durch ihren Einsatz fort.

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