Mit Nächstenliebe im Kampf gegen Obdachlosigkeit
Autorenlesereihe mit Richard Brox in Lübeck, Hamburg und Hannover
Richard Brox erzählt in seinem Buch "Kein Dach über dem Leben" von seinen Erfahrungen auf der Straße. In Lesungen der Heilsarmee in Lübeck, Hamburg und Hannover kommen er und das Team der Heilsarmee mit den Besuchern der Lesung über den Kampf gegen Obdachlosigkeit ins Gespräch.
Bestsellerautor Richard Brox und Rosemarie Scharf, Leiterin des Männerwohnheims der Heilsarmee in Lübeck, über die Arbeit mit obdachlosen Menschen
„Stell dir vor, du wirst in ein Zimmer gesteckt mit vier anderen Menschen, die du nicht kennst. Einer ist ein Junkie, er versucht, sich eine Dosis zu spritzen, ins Bein oder in den Arm, ohne richtig abzubinden und das Zeug spritzt durch den Raum. Einer ist ein Alkoholiker und weiß mitten in der Nacht nicht mehr, wohin mit sich und uriniert in eine Ecke des Schlafsaales. Der dritte ist ein psychisch Kranker und er fängt an zu toben und dich zu beschuldigen, für irgendetwas, was in seinem Kopf stattfindet. Der letzte im Raum ist ein Spielsüchtiger, der auf deine Sachen schielt, um sie dir in einem unachtsamen Moment zu stehlen. Stell dir vor, dort müsstest du eine Nacht schlafen.“
Dieses, für viele Menschen unglaubliche Szenario haben Richard Brox und viele andere wohnungslose Menschen schon mindestens einmal selbst erlebt. Im Wohnheim der Heilsarmee in Lübeck las Bestseller Autor Richard Brox, der selbst 30 Jahre auf der Straße lebte, aus seinem Buch „Kein Dach über dem Leben“ vor und erntete unter den Besuchern der Lesung unterschiedliche Reaktionen. Einige Besucher des Wohnheims nickten bei Brox Worten zustimmend, da sie selbst solche Erfahrungen machen mussten, während andere Gäste sprachlos den Kopf schüttelten.
Die Welt der obdachlosen Menschen ist hart und grausam und die Heilsarmee in Lübeck kämpft gegen genau diese erschütternden Szenarien an. „Wir legen in unserem Wohnheim Wert darauf, zu zeigen, dass wir unsere Bewohner mögen“, erklärte Rosemarie Scharf, die Leiterin der Heilsarmee-Einrichtung in Lübeck. „Hier können sich die Bewohner erstmal wieder regenerieren und dann möchten wir sie wieder auf ein Leben in einer eigenen Wohnung vorbereiten. Dazu fangen wir ganz vorne an, erstellen Hilfepläne und schaffen eine Basis, damit die Menschen wieder aufstehen und laufen können.“ Richard Brox weiß aus Erfahrung, wie wertvoll ein von Herzen kommendes Hilfsangebot aus wahrer Nächstenliebe ist. „Obdachlose wollen nicht als Penner, sondern als Menschen wahrgenommen werden. Man muss Geduld haben, Rückschläge erleiden können. Es lohnt sich trotzdem, Menschen zu helfen und Nächstenliebe zu üben, die von Herzen kommt. Man erkennt beim Sozialdienst, wer es von Herzen meint. Bei der Heilsarmee durfte ich diese Nächstenliebe erfahren. Wenn Menschen ganz unten angekommen sind, dann springt die Heilsarmee ein, um ihnen zu helfen. Dann, wenn sonst keiner mehr hilft.“
„Was würden sie heute einem jungen Menschen raten, der auf der Straße lebt?“, wollte ein Besucher von Richard Brox wissen. „Ich würde es ganz drastisch sagen“, erklärte der Autor: „Möchtest du leben? Man kann einen Menschen nicht mit Mitleid helfen, sondern sollte klare Worte gebrauchen, brachial aufzeigen, was passiert, wenn er nichts ändert.“ Eine helfende Hand sei wichtig, „aber aufstehen muss der Mensch selbst. Man muss diese Hilfe annehmen wollen und auf die Hilfe zugehen. Sonst hilft alles nichts.“
Rosemarie Scharf ging am Ende der Veranstaltung auf die Herausforderungen bei der Arbeit gegen Obdachlosigkeit auf. „Die Wohnungslosigkeit hier in Lübeck und in ganz Deutschland wird größer. Unser Wohnheim ist immer voll. Wir versuchen den Frieden in diesem Haus zu wahren, obwohl das Zusammenleben im Vierbettzimmer sehr herausfordernd ist. Viele Bewohner sind psychisch krank und müssten intensiver betreut werden. Außerdem sind wir gesetzlich nicht in der Lage, allen Menschen zu helfen, das tut mir sehr weh und das ist ein großes Problem.“ Trotz all dieser Schwierigkeiten konnte das Heilsarmee-Team dieses Jahr schon sieben Menschen in das Leben in einer eigenen Wohnung begleiten. Dafür dankte Rosmarie Scharf allen Unterstützern. „Ohne Ihr Zutun wäre die erfolgreiche Arbeit der Heilsarmee hier in Lübeck nicht möglich.“
Autor Richard Brox und Maren Siewert, Leiterin des Männerwohnheims der Heilsarmee in Hamburg, über die Herausforderungen der Obdachlosigkeit und den Weg in ein selbstbestimmtes Leben.
„Ich war ohne Obdach. Obdachlos. Ein Blick zurück auf mein elterliches Haus. Ein graues hässliches Haus in einem ebenso hässlichen Stadtteil von Mannheim. (…) Ich war stocknüchtern und fror trotz des milden Frühlingswetters. Die Uhr zeigte etwa elf, allzu lange hatte das Leerräumen wohl nicht gedauert. Allmählich geriet ich in Panik, dazu gesellte sich Wut. Der Boden war mit unter den Füßen weggezogen worden.“
So beschreibt Bestseller-Autor Richard Brox seinen ersten Tag als obdachloser Mensch, auf den noch 30 Jahre ohne Wohnung folgen sollten. Nur zwei Plastiktüten mit dem Allernötigsten konnte er mitnehmen, als er mit Anfang 20 die Wohnung seiner Eltern räumen musste. Und diese wenigen Habseligkeiten wurden ihm gleich in seiner ersten Nacht in einer Notunterkunft gestohlen. Heute berichtet Richard Brox über seine Erfahrungen und geht mit Menschen über das Thema Obdachlosigkeit und entsprechende Hilfsangebote ins Gespräch. Im März besuchte er das Jakob-Junker-Haus, ein Wohnheim für Männer der Heilsarmee Hamburg und las dort vor mehr als 60 Bewohnern und Besuchern aus seiner Biografie „Kein Dach über dem Leben“.
In Hamburg bietet die Heilsarmee Menschen in Not an drei Standorten Unterstützung an. In der Beratungsstelle Park-In am Oststeinbeker Weg kümmern sich Fachleute um Menschen mit Suchterkrankungen. An der Talstraße auf auf St. Pauli bietet die Heilsarmee im sogenannten „Heimathafen“ Gemeinschaft, warme Mahlzeiten, Kleidung, die Möglichkeit zum Duschen und Sozialgespräche an. Und im Jakob-Junker-Haus an der Borsteler Chaussee finden wohnungslose Männer eine Unterkunft, Beratung und Hilfe. Für Hundebesitzer stellt die Einrichtung sogar tiergerechte Wohncontainer zur Verfügung. „Das ist wichtig, denn für viele obdachlose Menschen sind Hunde die einzigen Freunde, die sie auch vor Gefahren auf der Straße beschützen“, erklärt Maren Siewert, die das Wohnheim leitet.
Im Rahmen seiner Lesung gab Richard Brox einen tiefen und bewegenden Einblick in sein Leben. Als er obdachlos wurde, war er kokainabhängig. Die Sucht habe sein Gehirn und seine klare Sicht vernebelt, so Brox. Die Anwesenden interessierte, wie er seine Sucht überwunden habe. „Seit ich 13 Jahre alt war, war ich von Kokain abhängig.“, erklärte Brox, „Im November 1989 stand ich auf einer Brücke und wollte springen, weil ich so am Ende war und nicht weiterwusste. Ich konnte nicht mehr. Mein letzter Versuch war, dass ich nach Heidelberg zur Suchtklinik ging. Ich drohte dort, mich umzubringen, wenn sie mir nicht helfen. Auf meinen Wunsch hin wurde ich in die geschlossene Abteilung aufgenommen. Ich schloss die Therapie ab, seitdem bin ich clean.“ Seiner Erfahrung nach, so der Autor, könne man nur die Sucht überwinden, wenn man es selbst wirklich will. Die Hilfe von außerhalb sei wichtig, aber der eigene Wille notwendig.
Was müsste sich ändern, damit die Lage für Obdachlose besser wird? Auch das wollten die Lesungsbesucher von Richard Brox wissen. Er schilderte, dass Sozialdienste obdachlose Menschen häufig von Bundesland zu Bundesland weiterreichten. „Es sollte in der Verfassung jedes Bundeslandes verankert sein, dass jeder Mensch ein Recht auf Arbeit, Ausbildung und Wohnraum hat und diese zur Verfügung gestellt werden müssen, ohne Wenn und Aber. Zurzeit können obdachlose Menschen das so nicht einfordern. Doch hier in Hamburg ist es die Heilsarmee, die sich stark für die obdachlosen Menschen einsetzt.“ Maren Siewert bestätigte seine Worte: „Das Herz für Gott und die Hand für die Menschen. Das ist es, was wir hier in Hamburg tun. Wir helfen unseren Bewohnern dabei, ihren Alltag zu bewältigen und ihre Suchtprobleme in den Griff zu bekommen. Das Ziel ist, sie wieder startklar für ein selbstbestimmtes Leben zu machen.“
Über den Krieg gegen die Obdachlosigkeit und die Dankbarkeit der Menschen als Lohn
„War das eine Metapher für mein kommendes Leben? Vielleicht nicht in diesem Moment, aber am nächsten Morgen, da fing er an, dieser Krieg, der vielleicht auch nach dreißig Jahren noch längst nicht zu Ende ist. (…) Wie betäubt lief ich mit meinen beiden Tüten, in denen doch meine wichtigsten und letzten Habseligkeiten steckten, planlos durch irgendwelche Straßen. Kein Sofa, zu dem ich in der Nacht zurückkehren konnte, kein Zimmer, keine Küche, kein Bad, kein fließendes Wasser, kein Klo. Nichts.“
So eindrücklich beschreibt Beststeller-Autor Richard Brox in seiner Biografie „Kein Dach über dem Leben“ wie sein Leben als Obdachloser begann. Mehr als 30 Jahre lang lebte er auf der Straße und führte einen verzweifelten Kampf gegen Armut und Not. Auch die Heilsarmee in Hannover, bei der Richard Brox im März aus seinem Buch las, kämpft seit dem 19. Jahrhundert gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit in der Welt. Christine Tursi, die Leiterin der Heilsarmee-Gemeinde Hannover, erzählte den mehr als 80 Besuchern der Lesung, was die evangelische Freikirche und soziale Organisation tut, um Menschen ein Schicksal wie das von Richard Brox zu ersparen. „Wir möchten mit den Menschen Träume und Ziele setzen, um Möglichkeiten zu bieten, aus der Obdachlosigkeit zu kommen. Wir sind ein Hafen, ein Ort der Ruhe und Zuflucht und wir möchten Familie und Freunde für Menschen sein, die selbst keine haben. Wir kümmern uns um die Seelen der Menschen. Die Not ist groß und die Not wird größer.“
Das bestätigt auch Richard Brox, der sich nach seiner Zeit als Obdachloser nun selbst für Menschen auf der Straße engagiert. Er erklärte: „Bei Sozialdiensten geschieht es oft, dass die obdachlosen Menschen erst gefragt werden, wo sie denn her seien, und dass sie in ihre ursprüngliche Wohnstadt zurückkehren müssten, um Hilfe zu empfangen. Doch die Heilsarmee fragt nicht erst: ‚Wer sind Sie?‘ ‚Woher kommen Sie?‘ Die Heilsarmee hilft einfach bedürftigen Menschen und ist federführend, die Not der Ärmsten zu lindern.“ Er selbst habe in den 30 Jahren auf der Straße Kraft darin gefunden, etwas zu tun. Anfangs waren das seine Tätigkeiten als Tagelöhner, obwohl er dort oft menschenverachtende Arbeitsbedingungen erlebte. Schließlich gründete er einen eigenen Blog, um andere obdachlose Menschen mit Informationen über wichtige Anlaufstellen und Hilfsangebote zu versorgen. Dadurch wurde der bekannte Journalist und Aktivist Günter Wallraff auf ihn aufmerksam und ermutigte Richard Brox, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Das Buch wurde zum Bestseller und half seinem Autor von der Straße.
Wie kann man obdachlosen Menschen, denen man im Alltag begegnet, ganz konkret helfen? Das war eine von vielen spannenden Fragen die die Lesungsbesucher in Hannover an Richard Brox hatten. „Ich persönlich habe in jeder Hosentasche Bargeld.“, erklärte Richard Brox. „In die eine stecke ich so viel Geld wie ich selbst am Tag brauche, in die andere zehn Prozent von dieser Summe, um es anderen zu geben. Wenn das Geld aufgebraucht ist, sowohl das für mich, also auch das zum Geben, dann ist es eben aufgebraucht für den Tag. Wichtig ist aber, dass niemand etwas geben muss, das ist jedem selbst überlassen. Aber wenn man bereit ist, zu geben, erhält man die Möglichkeit, neu erwachte Lebensfreude und Dankbarkeit zu erleben.“
Diese Erfahrung können Christine Tursi und die Menschen, die sich bei der Heilsarmee in Hannover für andere engagieren, nur bestätigen. „Es lohnt sich, mit Nächstenliebe auf Menschen am Rande der Gesellschaft zuzugehen und sich für die Ärmsten einzusetzen“, sagt Tursi. „Daraus können lebensverändernde Erfahrungen entstehen.“