Von der Trinker-Rettungsbrigade zum Babysong-Kurs

Vor 130 Jahren wurde das erste Korps in Gelsenkirchen ins Leben gerufen.

Doris Trawny-Vitzthum (links) und Lucia Schwarz mit einem historischen Foto von Michael Trawny, dem Gründer der Heilsarmee-Kapelle

Lucia Schwarz holt ein altes Foto im braunen Sepia-Look hervor: Neun Männer in Uniform und Mütze blicken mit ernstem Gesicht in die Kamera. In den Händen halten sie Laternen. „Das ist die Trinker-Rettungsbrigade aus Gelsenkirchen”, erklärt sie. Die Brigade hat um die Jahrhundertwende in den Straßen der Bergarbeiterstadt nach Betrunkenen gesucht, um sie - zum Schutz vor Kälte, Diebstahl und Gewalt - in das nächste Korps zu bringen. Drei Korps, also Gemeinden, gab es damals in der Bergbaustadt. Vor 130 Jahren, am 17. November 1895, wurde das erste Korps in Gelsenkirchen ins Leben gerufen.

Die Gelsenkirchenerin Lucia Schwarz kennt sich aus. Zum einen unterrichtet sie Geschichte, Englisch und Musik am örtlichen Ricarda-Huch-Gymnasium. Zum anderen ist die Heilsarmee ein Teil Ihrer Familie. Ihr Urgroßvater, Michael Trawny, gehörte zu den Gründern. Seit 1913 leitete er die Blasmusikkapelle, die bereits 1896 gegründet wurde.

Lucias Mutter, Doris Trawny-Vitzthum, kann sich an ihren Großvater nicht mehr erinnern. Sie war ein Kleinkind, als Michael Trawny 1953 starb. „Mein Großvater kam mit sieben Kindern zur Heilsarmee und die haben natürlich alle hier geheiratet und Familien gegründet. Dadurch ist eine große Verwandtschaft entstanden”, sagt sie.

Viele Familienmitglieder spielten in der Blaskapelle der Heilsarmee. Lucia hat mit fünf Jahren zum ersten Mal ein Kornett in die Hände bekommen - ein Instrument, das deutlich weicher und sanfter klingt als eine Trompete. Doris Trawny-Vitzthum spielt seit dem 20. Lebensjahr Horn, ihr Mann und einer ihrer Töchter Posaune.

Die Blaskapellen haben in der Freikirche eine lange Tradition. Die sogenannte Brass Musik - also die Blasmusik mit Instrumenten aus Messing - sei für die Heilsarmee ein „Mittel der Evangelisation”, betont Doris Trawny-Vitzthum. Es gibt sogar Heilsarmee-Liederbücher. „Wir haben über die Jahre festgestellt, dass man mit der Musik unheimlich viele Leute erreichen kann”, sagt sie. Die Heilsarmee-Kapelle ist in Gelsenkirchen nach wie vor ein Begriff. Sie tritt auf Stadtfesten auf, begleitet St. Martinszüge und Freiluftgottesdienste, veranstaltet Café-Konzerte in ihrem Gemeindesaal und tritt in Seniorenheimen auf. In der Adventszeit ist die Kapelle besonders gefragt: „Da könnten wir jeden Tag drei Auftritte haben.”

Die Gelsenkirchener Kapelle umfasst heute 13 Musikerinnen und Musiker. Sie treten in Uniformen auf. „Die Leute sagen heute: Wie schön, dass es uns in Gelsenkirchen noch gibt”, sagt Trawny-Vitzthum. Das war nicht immer so. Vor einigen Jahren wurden die Musiker zur Weihnachtszeit mit Böllern beworfen. Früher hielten viele Passanten die Frauen und Männer, die in der Fußgängerzone musizierten oder mit Sammelbüchsen durch die Kneipen gingen, für religiöse Spinner. „In der Schule wurde ich manchmal ausgelacht und musste mich rechtfertigen", erinnert sich Lucia Trawny-Vitzthum an ihre Jugendzeit. Auch innerhalb der Heilsarmee ging es früher deutlich strenger zu als heute sagte Lucia „Ich kann mich an viele Diskussionen erinnern, die ich als Kind führen musste, weil ich entweder keinen Rock anziehen wollte oder weil ich ein anderes T-Shirt haben wollte.”

Der Schaukasten am Gemeindehaus in der Märkischen Straße 34 zeigt das Gemeindeleben heute. Neben der Probe am Freitagabend bietet die Heilsarmee einen Gottesdienst am Sonntag und ein kostenloses Frühstück am Dienstag an. Doch was verbirgt sich hinter dem Babysongkurs am Mittwoch? Das sei eine Form der musikalischen Früherziehung, erklärt Doris Trawny-Vitzthum, die den Kurs leitet. “Wir fördern mit Klangspielen und Fingerspielen die Musikalität und Aufmerksamkeit der Kleinen”, sagt sie. Auch das Tamburin und ein Klavier seien im Einsatz und natürlich werde viel gemeinsam gesungen. „Bei diesen Kursen kommen wir mit den Eltern ins Gespräch”, ergänzt Lucia Schwarz. Der Kurs wird gemeinsam mit der Stadt angeboten. Er sei gut besucht und eine wichtige Perspektive für die Gemeinde.

Der Umgang mit Kleinkindern macht der dreifachen Mutter Doris Trawny-Vitzthum immer noch viel Spaß. Lange Zeit war die gelernte Übersetzerin in der Jugendarbeit engagiert und sogar bei der Heilsarmee in Gelsenkirchen angestellt. Obwohl sie schon länger das Rentenalter erreicht hat, denkt sie nicht ans Aufhören. „Ich fühle mich auch von Gott motiviert und geleitet”, sagt sie und blickt auf das Foto ihres Großvaters, das einen Ehrenplatz im Gemeindehaus trägt.

Von der Trinker-Rettungsbrigade um die Jahrhundertwende bis zum Babysong-Kurs in der Gegenwart: die Heilsarmee in Gelsenkirchen hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Doch eine Konstante ragt aus dem Strom der Geschichte hervor: Die Blasmusikkapelle erfreut seit fast 130 Jahren die Menschen in Gelsenkirchen.

 

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