Bahnhof Bethlehem - Ein Bericht
Mit gesenkten Köpfen laufen wir durch die Dunkelheit und Schneeregen zum Bahnhof. Die Vorhalle ist leer, die Geschäfte geschlossen. Nur ein paar Reisende hasten an uns vorbei. Vor der Spielhalle glänzt ein künstlicher Weihnachtsbaum, direkt neben dem Geldautomaten und einem Bildschirm, über den Vermisstenmeldungen der Polizei laufen.
Auf das Dach der Halle prasselt laut der Regen. Ich atme durch – es ist etwas wärmer hier als draußen, vor allem aber trocken. Doch mit dem erleichterten Atemzug steigt mir ein unangenehmer Gestank in die Nase: offenbar hat jemand die Wandnische neben dem Weihnachtsbaum als Urinal benutzt. Wie passend, denke ich, während mein Blick auf die Weihnachtskrippe fällt, die nur ein paar Meter weiter auf den schmutzigen Bodenfliesen steht.
“Bahnhof Bethlehem”- so heißt die Weihnachtsveranstaltung, die wir heute, am 24.12.2023 im Chemnitzer Hauptbahnhof feiern. Gemeinsam mit der Bahnhofsmission und JmeM wurde alles im Vorfeld geplant. Nun sind wir hier, schleppen Tische und Bänke heran, bauen Bühnentechnik auf und platzieren die großen Thermen voller Rotkohl und Gulasch auf der improvisierten Theke. Etwas zögerlich lege ich meinen Geigenkasten an die müffelnde Wand. Dabei geht mir ein Gedanke durch den Kopf: Wie mag Maria sich gefühlt haben, als sie ihr Baby in einem stinkenden Stall zur Welt bringen musste?
Inzwischen sind auch die ersten Gäste da. Helfer begrüßen sie, es wird gescherzt und fleißig mit angefasst. Der Posaunenchor packt die Instrumente aus. Gleich kann es losgehen.
Um halb sechs an diesem Weihnachtsabend ergreift Matthias das Mikrofon. Menschen mit zerlumpten Kleidern sitzen neben aufgeregten Kindern, ein Hund rollt sich neben Gepäckstücken zusammen. Wartende und Helfer der Bahnhofsmission lehnen an einem Schaufenster. Hinter der Theke stehen Ehrenamtliche bereit. Weihnachtliche Lieder erklingen, und rund siebzig Menschen stimmen ein. Ich bin glücklich, trotz Kälte und Gestank. So viele Leute, die aus den verschiedensten Gründen nicht in ihrem Wohnzimmer, sondern vor der Krippe im Bahnhof sitzen und die gute Nachricht von der Geburt des Retters hören!
Hirten rennen durch die Bahnhofsvorhalle, der Stern strahlt hinter Maria und Josef, Engel erleuchten die Szene mit den Taschenlampen ihrer Handys. In die Lesung des Evangeliums verkündet die Lautsprecherdurchsage, man solle auf seine Gepäckstücke achten. Die ersten Besucher an der Krippe wirken arm und schmutzig.
Selten war ich so nah dran an der Atmosphäre von Weihnachten, wie es damals in Bethlehem gewesen sein muss. Auch später, als die Gäste sich am weihnachtlichen Festessen laben und an den Tischen Geschichten aus ihrem Leben miteinander teilen, ist eines spürbar:
Jesus ist hier, mitten unter uns, an diesem zugigen, Heiligen Abend im Hauptbahnhof Chemnitz.