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Erfolg trotz Scheitern

Kapitel 2 aus „Begegnung mit Jesus“

Im Korps und auch zu Hause war das Leben stressig. Ich kam kaum nach mit den Besuchen bei all unseren Mitgliedern und Gottesdienstbesuchern, und so kam es, dass ich einmal wie ein Hirte auf der Suche nach einem verlorenen Schaf war, einer allein­stehenden Dame. Den Unterlagen zufolge handelte es sich um eine ältere, allein­stehende Frau, die keine der langjährig ansässigen Mitglieder der ­Gemeinde zu kennen schien. Sie war wohl seit ­Jahren nicht mehr ­aktiv dabei gewesen, sagte man mir.

Ich ging also zu der Adresse aus den Unterlagen. Ein Paar öffnete mir die Tür und erzählte, dass sie schon seit Jahren in diesem Haus ­lebten. Die Vormieterin sei eine Witwe, also keine unverheiratete Frau gewesen. Ich fragte auch bei den Nachbarn nach, konnte aber nichts herausfinden. So arbeitete ich mich von Haus zu Haus die Straße ­ent­lang. Keiner der Bewohner erinnerte sich an die Dame oder wusste irgendetwas über sie. Schließlich ging ich zurück zum ersten Haus und nahm mir die Häuser in der anderen Richtung vor. Ein Herr erinnerte sich tatsächlich an die Dame und erzählte mir, sie habe dort mit ihrer Schwester gelebt, bis sie vor ein paar Jahren umgezogen seien. Er wusste allerdings nicht, wohin.

Also ging ich wieder zum ersten Haus zurück. Diesmal überquerte ich die Straße und ging durch ein kleines Gartentor zu einer kleinen Doppelhaushälfte. Als ich anklopfte, öffnete mir eine zierliche Frau in den Fünfzigern. Sie wirkte sehr nervös, darum versuchte ich es mit Humor. Ich erzählte ihr, dass ich von der Heilsarmee käme und erst im Juni hergezogen war. Wie ein Hirte müsse ich jetzt alle Schäfchen meiner Herde einsammeln und mir würde noch ein einziges fehlen, das einfach nicht auffindbar war. Sie lachte und fragte, ob das wohl ein schwarzes Schaf wäre! Ich erzählte ihr, dass ich die Straße schon seit einer Stunde auf und ab gewandert war und dass die Frau wohl mit ihrer Schwester gegenüber gelebt hätte, aber an einen unbekannten Ort weggezogen sei.
Die Dame wurde nachdenklich.

„Die sind schon lange weggezogen“, meinte sie. „Das ist be­stimmt schon acht Jahre her.“

„Wissen Sie denn auch, wohin?“, fragte ich. Und sie antwortete: „Ja.“

„Juhu!“, dachte ich.

„Gehen Sie diese Straße bis zum Ende weiter“, sie zeigte mir den Weg mit dem Finger, „dann nach rechts auf die Hauptstraße. Nach ungefähr achthundert Metern steht rechts eine Telefonzelle. Direkt daneben geht es zu ihrem Haus. Die genaue Hausnummer weiß ich leider nicht.“

„Großartig, vielen Dank“, gab ich zurück.

„Ich habe sie früher öfter mal gesehen, aber jetzt schon länger nicht mehr“, fügte sie hinzu.

„Was denken Sie, wie alt die Dame ist?“, fragte ich. Ihre Antwort: „Oh, die ist sicher schon um die achtzig.“

Ich sah ihr während unseres Gesprächs fest in die Augen. Sie waren gütig, aber ich sah noch etwas anderes darin. Zwar brachte ich sie zum Lachen, aber ich spürte auch Traurigkeit. Hinter diesem Lächeln verbarg sich ein gequältes Herz.

„Und wie geht es Ihnen so?“, fragte ich.

„Ach, mir geht‘s gut“, antwortete sie.

„Wirklich? Sind Sie wirklich glücklich?“ Sie zögerte und sah mir tief in die Augen. „Möchten Sie vielleicht über irgendetwas reden? Bedrückt sie etwas?“, setzte ich nach. Darauf folgte wieder langes Schweigen.

„Ich will Sie nicht mit meinen Problemen belasten, Sie haben sicher viel zu tun“, antwortete sie schließlich.

„Ach was, Sie belasten mich doch nicht und ich nehme mir einfach die Zeit. Ich möchte mich gar nicht aufdrängen oder Ihnen unangenehm werden, aber wenn Sie wollen, können Sie mir Ihre Telefon­nummer aufschreiben und nach Weihnachten rufe ich Sie dann an und besuche Sie. Wenn Sie es sich anders überlegen und nicht mit mir reden wollen, dann ist das auch kein Problem. Was meinen Sie?“

Sie antwortete: „Ja, das würde mir gefallen.“

Also holte ich mein kleines Notizbuch hervor und schrieb mir ­ihren Namen, Nancy Lawton, ihre Adresse und ihre Telefon­nummer auf. Sie sprach noch kurz von ihren Kindern und ihrem ver­storbenen Ehemann und ich erzählte ihr ein wenig aus meinem Leben und von den Schwierigkeiten, die meine Familie durchleben musste, was sie ja sicher gut verstehen könne. Ich wünschte ihr frohe Weihnachten und ging wieder. Meine Geschichte erzählte ich ihr nicht, um ­Mitleid zu erregen; vielmehr wollte ich ihr klarmachen, dass auch christliche Geistliche dieselben Probleme wie Normalsterbliche haben (was ­vielen Menschen nicht ganz klar zu sein scheint) und sich daher gut in andere hineinversetzen können.

Weihnachten war sehr stressig. Wie in vielen anderen Kirchen war auch im Korps jede Menge los. Dann begann das neue Jahr. Krisen und Notfälle forderten meine Aufmerksamkeit, es gab vieles zu ­organisieren und nebenbei die wöchentlichen Hausbesuche und die Vorbereitungen für den Sonntagsgottesdienst und die anderen ­Zusammenkünfte. Die Wochen flogen nur so dahin.

Im März stellten die Heilssoldaten einen Kabarettabend auf die Beine, um zu Spenden zu kommen. Als ich eintraf, nahmen diverse Mitglieder und Gäste bereits an den liebevoll dekorierten Tischen Platz. Ich ließ mich auf einem leeren Platz neben zweien unserer Über-60-Club-Mitglieder und einer unbekannten Dame nieder. Dann ging die Show los und die Teilnehmer präsentierten ihr Können und ihre musikalischen Fähigkeiten. Zwischendurch gab es eine Pause, in der wir uns alle am üppigen Buffet weiter hinten im Saal aufreihten. Zurück am Tisch wurde viel geredet und gelacht. Schließlich kam ich auch mit der unbekannten Dame am Tisch ins Gespräch, die so um die fünfzig sein musste.

Als wir so redeten, wurde mir ein wenig mulmig zumute, denn sie sah mich ganz unverwegen an und ein Lächeln umspielte ihre ­Lippen. Irgendwann kam das Gespräch auf meine Familie, die leider nicht dabei sein konnte und sie machte eine wissende Bemerkung, die mich aufhorchen ließ. Ich hatte doch kaum jemandem von meiner Familiensituation erzählt. „Woher wissen Sie das?“, fragte ich verwirrt. „Wer hat Ihnen das erzählt?“

„Na, Sie“, antwortete sie.

„Ich?“, wollte ich erstaunt wissen, denn ich hatte die Dame (meines Wissens) vorher noch nie gesehen.

„Ja.“ - „Aber wann?“, bohrte ich weiter nach.

„Als Sie bei mir zu Hause waren“, entgegnete sie mit einem breiten Grinsen.

Da erinnerte ich mich ganz plötzlich. „Ach, genau!“, rief ich. Mir wurde auf einmal ganz heiß. „Ich war vor Weihnachten bei Ihnen und habe nach einem Mitglied der Heilsarmee gefragt; eine Dame, die mal in Ihrer Straße gewohnt hat.“ Sie nickte zustimmend. „Und dann habe ich Ihnen versprochen, Sie nach den stressigen Feiertagen anzurufen. Das tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich weiß auch nicht, wie ich Sie so im Stich lassen konnte. Ich bin mir sicher, dass ich mir Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihre Nummer notiert habe.“

„Genau, in Ihrem Notizbuch“, meinte sie.

„Jetzt weiß ich, was passiert sein muss“, sagte ich und zog das ­Notizbuch aus der Tasche. „Ich hab‘ wohl vergessen, Ihre Daten vom ­alten in mein neues Notizbuch zu übertragen.“ Als ich ganz hinten im Notizbuch nachsah, konnte ich nirgendwo einen Eintrag von Nancy finden.

„Ist nicht schlimm“, entgegnete sie freundlich. „Das passiert schon mal. Sie haben ja viel wichtigere Dinge zu tun und jetzt bin ich ja auch hier.“

„Das ist aber keine Entschuldigung“, antwortete ich ihr. „Ich habe mich nicht an ein Versprechen gehalten und das Treffen mit Ihnen ist viel wichtiger als die ganzen anderen Dinge. Es war vielleicht keine Absicht, aber für so eine Nachlässigkeit gibt es keine Entschuldigung; auch jetzt nicht, wo ich weiß, wie das passiert ist. Es tut mir wirklich furchtbar leid. Ich bin ganz überrascht, dass Sie trotzdem heute hier sind. Möchten Sie denn immer noch, dass ich Sie mal besuchen komme?“

„Es würde mich freuen, wenn Sie Zeit dafür hätten. Ich bin heute hier, weil ich eine Freundin habe, die zu den Über-60-Club-Mitgliedern gehört. Ich erzählte ihr von unserer Begegnung und dass ich dann leider nichts mehr von Ihnen gehört habe, obwohl Sie es ­ver­sprochen hatten. Sie hat Sie in Schutz genommen. Ich habe ihr erzählt, dass unser Treffen mich damals sehr aufgebaut hat und dass es sicher einen guten Grund gab, warum Sie nichts mehr von sich haben hören lassen.“

Also vereinbarten wir ein Treffen und ich besuchte sie in der folgenden Woche. Sie erzählte mir, wie sie sich innerlich leer fühlte seit dem Tod ihres Mannes vor ein paar Jahren. Außerdem berichtete sie von belastenden Kindheitserlebnissen, unter denen sie bis heute ziemlich litt. Sie ging zwar regelmäßig sonntags zur Kirche und fühlte sich dort auch gut aufgehoben und wohl, aber sobald sie die Kirche verließ, „verpufften“ all diese Gefühle auch schon wieder. Sie erzählte mir auch, dass sie an Gott glaubte und abends und morgens betete, aber irgendetwas fehlte ihr dabei.

Vorsichtig fragte ich weiter nach, ob ihr schon einmal jemand erzählt hätte, dass sie Gott auch ganz persönlich kennenlernen könne, dass sie Jesus, der die Schmerzen, die Ungerechtigkeit, die ­Einsamkeit, die Misshandlungen und den Verlust selbst erfahren hatte, als ihren Erlöser und Freund annehmen könne. Obwohl sie seit ­vielen Jahren zur Kirche ging, hatte ihr noch nie jemand auf eine ­derart persönliche Art von Jesus erzählt. Sie hatte in den Predigten noch nie etwas von Gottes Heilsbotschaft in Jesus erfahren. Wir beteten gemeinsam. Dann meinte sie, sie wolle ihre Kirche nicht verlassen. Sie meinte, das sei schon der richtige Ort für sie, aber es gebe keinen Abendgottesdienst. Wenn ich nichts dagegen hätte, würde sie sich uns gerne sonntagabends anschließen. Ich war damit natürlich mehr als ­einverstanden und sagte ihr, sie würde sicher beiden Kirchen ­guttun und eine Verbindung zwischen ihnen herstellen.
Und so blieb es dann bei diesem Arrangement. Eines Sonntag­abends kurze Zeit später bat sie dann vor der Gemeinde um Erlösung. Gott veränderte sie. Nun wusste sie, wem sie glaubte und der Heilige Geist schenkte ihr eine Zuversicht, die sie vorher nie gekannt hatte. Was sie schon so lange während der Gottesdienste gespürt hatte, das trug sie nun in ihrem Herzen.

Als sie allerdings ihrem Pfarrer von ihrer geistlichen Wiedergeburt und von unseren Sonntagsgottesdiensten erzählte, machte er sich traurigerweise über sie lustig und sprach schlecht über uns. Er fragte sie, ob man ihr schon ein Tamburin in die Hand gedrückt hätte. Sie ging noch eine Weile in beide Kirchen, doch obwohl ich sie ­ausdrücklich ermutigte, auch ihre alte Gemeinde weiter zu ­besuchen und dort Gutes zu tun, nahmen die gemeinen, sarkastischen ­Bemerkungen kein Ende, und so entschied sie sich schließlich, die Kirche zu verlassen und Mitglied im Korps der Heilsarmee zu werden. Das Ganze ist nun zwanzig Jahre her. Sie ist immer noch bei uns und beschreitet den Pfad Jesu.

Wie gütig Gott doch ist. Obwohl ich so unachtsam und nachlässig gewesen war, hatte Gott mir bei Nancy eine zweite Chance ­gegeben. Gott sei gepriesen dafür, dass das ewige Schicksal ­unserer ­Mitmenschen nicht allein von unseren Fähigkeiten und unserer ­Effizienz abhängt. Gott erhört unsere Herzenswünsche. Solange wir zu unseren Fehlern und Schwächen stehen und demütig anerkennen, dass wir ihm niemals genügen können, wird er unsere Unzuläng­lichkeiten ausbügeln. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass Gott dies nicht nur kann, sondern auch tatsächlich tut.

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