von 0 Kommentare

Freiheit auf Zeit

Kapitel 14 aus „Begegnung mit Jesus“

Zu den besten Orten für den Verkündigungsdienst gehören ganz sicher Gefängnisse. Auch Christus wurde verhaftet und wusste daher, wie sich das anfühlt. Der fleischgewordene Schöpfer des Himmels und der Erde wurde vor seinem Tod von den Römern ins Gefängnis geworfen. Bis heute zeigt sich sein Wirken an diesem Ort.

Als ich hörte, wie die Gefangenen laut und lärmend die Kapelle betraten, wusste ich schon, dass es kein einfacher Morgen werden würde. Die drei Männer in der ersten Reihe stellten von Anfang an klar, dass sie nur aus einer Laune heraus teilnahmen. Beim ersten Lied „sangen“ sie den falschen Text und hielten sich weder an den Rhythmus, noch an die Melodie. Während des Gottesdienstes hätte ich auch einfach die Wärter bitten können, die Störenfriede rauszuwerfen. Allerdings achteten die anderen Insassen genauestens ­darauf, wie ich auf die Kapriolen ihrer Mithäftlinge reagierte, und die meisten hörten mir gebannt zu.

Am Ende des Gottesdienstes betete ich für die Männer: „Lieber Gott und Vater, diese Männer hier liegen dir am Herzen“, ich hielt kurz inne, als jemand dazwischenrief: „Ich nicht!“ und Gelächter unter einigen Männern ausbrach. Ich öffnete die Augen und sah den grobschlächtigen, kahlrasierten Anführer, der sich von seinen sichtlich amüsierten Kumpels anfeuern ließ.

Ich ging hinüber zur ersten Reihe und sprach den Großen in der Mitte direkt an: „Doch, das tust du. Du liegst Gott mehr am Herzen, als du jemals für möglich hältst.“ Ich hatte einen Kloß im Hals und mir schossen Tränen in die Augen bei dem Gedanken: „Wenn du nur wüsstest ...“, und ich erinnerte mich, wie Jesus dieselben Worte unter Tränen beim Anblick Jerusalems (Lukas 19,42) und zur Frau am Brunnen in Samarien (Johannes 4,10) gesprochen hatte. Wie oft ­haben wir, die wir den Herrn kennen, schon voller schmerzlichem Sehnen gegenüber unseren nichtgläubigen Mitmenschen gedacht: „Wenn du nur wüsstest ...“?

Ich erklärte ihm, wie Gott ihm schon sein ganzes Leben lang seine Liebe zeigte und dass es Gott das Herz brach und er sich so sehr nach ihm sehnte, dass er seinen Sohn für ihn hingegeben hatte. Dann sprach ich mein Gebet zu Ende. Es herrschte jetzt eine ruhige Atmosphäre, kein Gejohle, keine Kommentare mehr. Schweigsam verließen die Häftlinge die Kapelle und einige dankten mir beim Handschlag dafür, dass ich dieser Respektlosigkeit etwas entgegengesetzt hatte. Obwohl der Gottesdienst kaum 30 Minuten dauerte, war ich völlig erledigt, als die nächste Männergruppe für den zweiten Gottesdienst hereinkam.

Keine Gemeinde ist interessanter, herausfordernder und ­an­sprechbarer als Gefängnisinsassen. Zum Glück blieb es bei diesem einzelnen Vorfall mit der kleinen, aufsässigen Gruppe während des ersten Gottesdienstes an jenem Morgen.

Der zweite Gottesdienst verlief ohne Zwischenfälle, und ich holte danach meinen Mantel aus dem Büro des Kaplans und wartete am Tor darauf, dass man mich hinausließ. Ich wollte gerne zügig nach Hause und meiner rauen Kehle etwas Ruhe gönnen. Da kam ein ­junger Mann zu mir und bat mich um ein Gespräch.

Er kommentierte etwas, das er im Gottesdienst gehört hatte und meinte dann: „Das Gegenteil von verloren ist gefunden, oder?“

„Ganz genau“, antwortete ich.

„Wenn Sie also sagen, dass jemand verloren ist, heißt das dann, dass er in die Hölle kommt?“

Ich zögerte kurz und fragte mich, was als nächstes käme. „Äh, ja“, war meine Antwort.

„Dann glauben Sie also an die Hölle?“, wollte er wissen. Ich antwortete: „Ja.“

„Hat Jesus auch an die Hölle geglaubt?“

„Ja. Tatsächlich hat er mehr davon gesprochen, als alle anderen in der Bibel. Das wissen die meisten Leute nur nicht, weil er auch am meisten von Gott und vom Himmel gesprochen hat.“

„Also, ich glaube nicht an die Hölle“, sagte er mit Nachdruck.

„Du kannst glauben, woran auch immer du willst“, gab ich zurück.

Das klingt zunächst einmal widersprüchlich, doch manche Menschen haben starke Überzeugungen, die sie vehement verteidigen und spüren trotzdem tief drinnen, dass sie falsch liegen und keinen Frieden finden können, obwohl sie jedes Streitgespräch für sich entscheiden würden.

Er fuhr fort: „Ich bin ja nicht ganz und gar böse, wissen Sie. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber ich bin nicht völlig durchtrieben. Tatsächlich tue ich viel mehr Gutes als Schlechtes. Das weiß Gott doch bestimmt, oder?“

Ich antwortete ihm: „Ja, das weiß er, und das Gute, das er sieht, gefällt ihm auch. Aber es gibt da noch ein Problem für uns beide.“

„Und das wäre?“

„Auch, wenn du noch so viel Gutes tust - schon Jesus wusste, dass auch schlechte Menschen zu Gutem fähig sind (Lukas 11,13). Aber deine Sünden hindern dich daran, in den Himmel zu kommen. Stattdessen bist du auf dem Weg in die Hölle.“

Was er dann sagte, klang so wie die Frage eines Gefangenen fast 2000 Jahre zuvor: „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ (Apostelgeschichte 16,30).

Ich erklärte ihm, was er tun müsse, und wie er hier und jetzt im Gefängnis gerettet werden könne.

„Ich denk‘ drüber nach“, antwortete er.

„Tu‘ das, aber warte nicht, bis es zu spät ist“, gab ich ihm mit auf den Weg. „Der Teufel ist sehr gerissen. Er stimmt unseren guten Vorsätzen zu und flüstert uns dann ein: „Aber erst morgen.“

Mit einem Bibeltext in der Hand ging er auf seine Zelle zurück. Wir vereinbarten, dass ich ihn bei meinem nächsten Besuch am folgenden Freitagnachmittag besuchen würde.

Als ich die Zelle betrat, spürte ich schon, dass etwas mit ihm passiert war. Er hatte ein Strahlen im Gesicht. Nach unserem Gespräch vom vergangenen Sonntag hatte er in dem Bibeltext gelesen, und am Mittwoch hatte er vor seinem Bett gekniet, (er hatte zum Glück eine Einzelzelle), Gott um die Vergebung seiner Sünden gebeten und Jesus als seinen Erlöser in sein Leben eingeladen. Er hatte daraufhin beim Kaplan nach einer Bibel gefragt und schon das halbe Neue Testament gelesen!

Wir saßen auf seinem Bett und gingen zusammen eine Liste von Fragen durch, die er sich aufgeschrieben hatte. Er wollte wissen, was der Sabbat bedeutete, wer Elia war und was es mit dem Passahfest auf sich hatte. Er erzählte mir, er habe das erste Mal seit Jahren wirklich gut geschlafen.

„Niemand hat mir je davon etwas gesagt“, meinte er. Er war so aufgeregt über seine großartige Entdeckung, dass er gleich nochmal hinzufügte: „Davon habe ich wirklich nichts gewusst.“ Ich freute mich wirklich für ihn und wurde zugleich traurig, als er auf das Foto eines jungen Mannes an der Zellenwand zeigte. „Das war mein bester ­Kumpel. Er ist letztes Jahr ums Leben gekommen. Er hat nie irgendwas vom Glauben erfahren. Was ist mit ihm?

Ich dachte an all die Menschen, die von sich selbst behaupten, ­unseren Erlöser schon seit Ewigkeiten zu kennen und zu lieben, und die sich doch kaum für das Seelenheil und das Schicksal ihrer Mitmenschen interessieren. Und hier war dieser junge Mann, der Jesus erst ein paar Tage zuvor kennengelernt hatte, und der sich schon jetzt Sorgen um seinen Kumpel machte.

Von da an besuchte ich Wayne jede Woche in seiner Zelle und verfolgte seine Fortschritte auf dem Weg mit Jesus. Er konnte es kaum abwarten, mir von seinen Entdeckungen zu berichten, als wäre mir das alles völlig neu. Er wollte immer noch mehr wissen. Jedes Mal hatte er viele Fragen für mich.

Doch erst, als ich ihn besser kennenlernte, konnte ich ermessen, was Gott wirklich im Herzen dieses jungen Mannes bewirkt hatte.

Die anderen Gefangenen auf seiner Etage begegneten ihm mit ­Respekt und Ehrerbietung. Einmal war ich während der Pausenzeit auf dem Weg zu Waynes geöffneter Zellentür, als mir drei Männer vom Gang gegenüber Beleidigungen und abfällige Kommentare zubrüllten.

Mir gefiel zwar nicht, was sie da grölten, doch ich drehte mich zu ihnen herum und begegnete ihren Kränkungen mit einem Lächeln. Als ich mich wieder nach vorne wandte, sah ich, wie Wayne direkt vor mir aus der Zelle geschossen kam, mit feuriger Wut im Blick. Er lehnte sich übers Geländer, deutete erbost auf die drei Männer und rief: „Wer von denen war‘s? Wer war‘s? Sagen Sie mir, wer es war, ­­Mr Webber.“ Ich sah mich wieder um und bemerkte, dass die Männer ganz starr vor Schreck waren, ihr Grinsen war wie weggeblasen.

„Wayne, Wayne, lass es sein», flehte ich, als ich ihn zurück in seine Zelle führte und mich auf sein Bett setzte.» So gehen wir jetzt nicht mehr mit den Dingen um.

„Du darfst es nicht annehmen! So werden sie nicht mit dir reden! Sie müssen verstehen, dass du mein Freund bist und niemand mit meinem Freund so spricht“ antwortete er.

„Wayne, das ist doch nicht so wichtig. Wenn jemand grundlos ­unhöflich und gemein ist, dann hat dieser jemand ein Problem. Bete zu Gott und bitte ihn um seinen Segen für jene, die dich verfluchen, so wie Jesus es uns gelehrt hat. So wie Jesus am Kreuz.“

Wayne war klein und gedrungen und hielt seinen Körper gut in Form - ein durchtrainierter Mann. Einige Jahre zuvor hatte er bei einem Bodybuilder-Wettbewerb den Titel des Mr Nottingham gewonnen. Er hatte mit Drogen gedealt und war tatsächlich sogar zum mächtigsten Dealer und Kriminellen in seiner Stadt aufgestiegen, doch er war fest entschlossen, ein neues Kapitel aufzuschlagen, wenn er erst einmal aus dem Gefängnis käme. Er hatte eine kleine, neun Monate alte Tochter namens Sunnie mit seiner Freundin Nisha. Aus vorherigen Beziehungen hatte er noch zwei andere Kinder. Nisha war noch im Teenageralter und stammte aus einer gemischtrassigen Familie. Ein Foto von ihr und ihrer kleinen Tochter hing an der Zellenwand. Er war sehr stolz auf sie und darauf, dass sie als Model arbeitete.

In den folgenden Monaten kam ich fast jeden Freitag bei ihm ­vorbei, verfolgte seine Fortschritte und sprach mit ihm über einige ­Probleme in seinem komplizierten Leben. Eines Freitagabends rief mich ­spätabends der Gefängniskaplan an. Er klang besorgt, als er mir den Grund für seinen späten Anruf erklärte. Die Polizei von ­Nottingham, Waynes Heimatstadt, war ins Lincoln Prison gekommen und hatte dem Kaplan mitgeteilt, dass Waynes Freundin ihr Baby ertränkt und sich selbst anschließend in ihrer Wohnung erhängt hatte. Völlig entsetzt hörte ich zu, wie der Kaplan mir erzählte, man habe Wayne zur Beobachtung auf die Krankenstation des Gefängnisses gebracht, falls er wegen dieser furchtbaren Nachrichten ­selbstmordgefährdet war.

„Sie haben viel Zeit mit ihm verbracht und er kennt Sie gut. Könnten Sie vielleicht morgen vorbeikommen und sich etwas um ihn kümmern?“, fragte er. Natürlich würde ich das. Noch immer geschockt von diesen Neuigkeiten legte ich auf.

Ich schaltete den Fernseher ein, da gleich die Nachrichten kommen sollten. Nottingham und Lincoln (mein Wohnort) lagen nicht weit auseinander. Tatsächlich berichteten auch die Nachrichten, dass die Leichen einer Frau und eines Babys gefunden worden wa­ren und dass es keine weiteren Verdächtigen gebe. Es folgten Bilder von ihrem Wohnblock hinter jeder Menge blauem Polizei-Absperrband. Ich tat in jener Nacht kaum ein Auge zu.

Als ich am folgenden Morgen im Gefängnis ankam, führte mich ein Wärter zur Krankenstation und schloss einen Raum für mich und Wayne auf. Mir fehlten die Worte, als sie ihn hereinbrachten. Wir umarmten uns einfach nur und ich sprach ihm mein Beileid aus.

Die folgende Stunde verbrachten wir schweigend - er auf einer Seite des Zimmers, ich auf der anderen. Mir fiel nichts ein, was ich hätte ­sagen können und was nicht banal geklungen hätte. Ich war so wütend auf Gott und wunderte mich, dass Wayne schon so früh in seinem neuen Leben als Christ vor solch eine Prüfung gestellt wurde.

Dann kam der Wärter und sagte, wir hätten nur noch fünf Minuten. Ich fragte Wayne, ob ich für ihn beten dürfe. Er war einver­standen. Als ich gerade „Amen“ sagte, öffnete sich die Tür und der Wärter kam ihn holen. An der Tür drehte sich Wayne noch einmal um und dankte mir für den Besuch.

Uns stiegen beiden die Tränen in die Augen und er fügte hinzu: „Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich spüre, dass Gott mich noch liebt.“

Ich brachte in Erfahrung, wann und wo die Beerdigung stattfinden sollte und fuhr nach Nottingham. Es dauerte etwas, bis ich die Kirche gefunden hatte. Draußen schien hell die Sonne, als ich den großen, dunklen, höhlenartigen Bau betrat. In den Reihen saßen nur drei oder vier Menschen. Ich ließ mich direkt am Gang nieder, sodass Wayne mich sehen konnte und wusste, dass ich für ihn da war, falls wir uns nachher nicht mehr sehen sollten. Es machte mich traurig, dass nur so wenige Menschen gekommen waren.

Die Zeit verging langsam. Die Stille war erdrückend. Da öffnete sich plötzlich mit einem lauten Krachen die große Tür und die goldenen Sonnenstrahlen fielen wie aus einem Hochofen von draußen hinein. Ein weißer Sarg mit Mutter und Kind wurde hineingetragen. Vor dem Sarg marschierte der Vikar und zitierte eine Passage aus der Heiligen Schrift. Wayne folgte dahinter, mit Handschellen an seinen ­begleitenden Wärter gekettet.

Dann strömte eine Menschenmenge durch den Mittelgang hinein und verteilte sich auf die Reihen rechts und links. Ich blickte in die Gesichter ringsum und fragte mich, ob sich die gesamte kriminelle Halbwelt der Stadt hier versammelt hatte.

Nach dem Gottesdienst folgte ich der Masse nach draußen in die Sonne, wo Wayne schon auf mich wartete und mich als seinen Freund seinen Eltern vorstellen wollte. Trotz größter Anstrengung konnte Wayne seinen unerträglichen Schmerz nicht verbergen.

Am Freitag darauf trafen wir uns wieder in seiner Zelle und er dankte mir, dass ich dabei gewesen war. Ich hatte viele Fragen an ihn zu all den Menschen, die ich dort gesehen hatte. Er erzählte, dass er immer noch betete und in der Bibel las und sich fragte, wie er wohl ohne seinen neu gefundenen Glauben damit umgegangen wäre. Ich sagte, ich wünschte mir, auch alle seine Freunde könnten den Erlöser kennenlernen, so wie er. Da stimmte er mir zu.

Wenn er aus dem Gefängnis käme, könne ich ihn hoffentlich draußen besuchen und auch seine Freunde kennenlernen - so dachte ich. Das würde schwierig werden, erklärte er mir. Sie behandelten ihn mit Respekt, weil sie Angst vor ihm hatten. Ich hingegen hätte keine Angst vor ihm. Wenn sie nun mitbekämen, wie ich völlig angstfrei und locker mit ihm umging, würde ihn das seinen Status kosten.

Wayne konnte einen Teil seiner Strafe zu Hause verbüßen. Er kam für ungefähr einen Monat auf freien Fuß und musste im Anschluss entweder eine hohe Kaution zahlen, oder den Rest in einem offeneren Gefängnis verbringen. Während er draußen war, hatte ich eine ­Besprechung mit Berufskollegen in den William Booth Memorial Halls in Nottingham. Kurz vor dem Treffen fiel mir auf, dass ich einen Ordner im Wagen vergessen hatte, und ich eilte über den Zebrastreifen, um ihn zu holen.

Ein Auto hatte für mich angehalten, und der Fahrer hupte auf ­einmal derart wild, dass ich aufschreckte. Ich war verwirrt, denn das Auto hatte doch schließlich für mich angehalten. Als ich durch die Windschutzscheibe sah, erblickte ich trotz der blendenden Sonne zu meinem Erstaunen Wayne am Steuer! Ich rannte sofort zur Fahrertür und er ließ das Fenster runter.

„Das ist ja nicht zu glauben“, rief ich. „Was für ein Zufall, dass du ausgerechnet hier an diesem Zebrastreifen für mich anhältst - und das in so einer großen Stadt!“ Sein Gesicht verriet mir, dass er ange­spannt war. „Was ist denn los, Wayne?“, wollte ich wissen.

„Seit ich draußen bin, läuft alles schief, Mr Webber. Haben Sie kurz Zeit?“

„Natürlich“, antwortete ich. „Steigen Sie ein“, sagte er.

Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, er trat aufs Gas und wir rauschten davon. Wir konnten beide kaum glauben, dass wir uns über den Weg gelaufen waren - just in dem Moment, als er jemanden zum Reden brauchte.

Ich hatte keine Ahnung, wohin er mich mitnahm. Schließlich kam er in einer ruhigen Nebenstraße zum Stehen, in der alle Häuser ent­weder heruntergekommen oder mit Brettern vernagelt waren. Er erzählte mir von seinen vielen Problemen und dem Ärger, den er seit seiner Entlassung gehabt hatte.

Eine seiner Ex-Freundinnen war bei ihm vorbeigekommen, als sie vom Tod seiner Freundin erfahren hatte und wollte ihre Beziehung wiederaufleben lassen. Er war nicht darauf eingegangen und sie hatte, als er einmal nicht zu Hause war, die Fenster seiner Wohnung eingeschlagen. Die Nachbarn hatten den Lärm gehört und die Polizei gerufen. Die Polizei war nun wirklich das Letzte, was er gerade ­gebrauchen konnte. Und das war nur eines seiner vielen Probleme. Ich hatte keine einfachen Antworten parat.

„Mr Webber, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie hart das Leben hier draußen ist“, sagte er, und: „Sie werden meine Welt nie verstehen.“

Es tat mir im Herzen weh. Unsere Welten lagen so weit aus­einander. In unserer Selbstgefälligkeit können wir natürlich unsere Mitmenschen auffordern, ihre Welt zu verlassen und einen Neubeginn zu wagen, doch wenn alle Freunde, alle Nachbarn und fast die ganze Familie in dieser Welt leben, ist das leichter gesagt als getan. Sie kennen keine andere Welt und können sich auch nicht vor­stellen, ein neues Leben außerhalb dieser Welt zu führen. Nach einer Stunde beteten wir gemeinsam. Er sagte, es ginge ihm nach unserem Treffen schon viel besser, und er brachte mich dorthin zurück, wo wir uns getroffen hatten. „Sie haben wahrscheinlich ganz schön Angst gehabt, als ich einfach mit Ihnen weggefahren bin und Sie wussten nicht wohin, oder?“, lachte er.

„Nein, überhaupt nicht, Wayne. Du bist mein Freund und ich vertraue dir“, antwortete ich.

Wayne konnte seine Kaution nicht bezahlen und kam in ein ­offeneres Gefängnis einige Kilometer von mir entfernt. Alles änderte sich. Auf spiritueller Ebene hatte Wayne Schwierigkeiten. Ich konnte ihn zwar noch alle paar Wochen besuchen, doch ich musste immer vorher einen Termin ausmachen. Eines Tages rief ich im Gefängnis an und erfuhr, dass er entlassen worden war. Es machte mich traurig, dass er mich nicht benachrichtigt und mir keine Kontaktadresse ­hinterlassen hatte.

Ich dachte oft an ihn und fragte mich, wohin das Leben ihn wohl geführt haben mochte. In seiner Welt hatte er Geld und Prestige, Macht und Status, ein großes Einkommen, einen Luxuswagen und ­Besitztümer. So bedauerlich und unmoralisch sein Lebenswandel zwar gewesen sein mag, welche Alternativen hat man schon als Mensch mittleren Alters ohne Ausbildung, dessen Freunde allesamt in der Unterwelt zu Hause sind? Regale im Supermarkt auffüllen? Hand­reichungen? Putzen für einen geringen Lohn?

Wayne erinnerte mich an die Dornen im Gleichnis vom Sämann. Jesus spricht: „Doch andere Menschen gleichen dem von Dornengestrüpp überwucherten Boden: Sie hören die Botschaft zwar, doch dann kommen die Sorgen des Alltags, die Verlockungen des Reichtums und die Gier nach all den Dingen dieses Lebens und ersticken Gottes Botschaft, so dass keine Frucht daraus entstehen kann.“ (Markus 4,18-19). Nur eines ist gewiss: Der Samen auf den Dornen ist gesät worden. Auch bei Wayne ist diese Saat gesät worden. Eine Zeit lang hatte er Jesus im Herzen gehabt und geliebt.

Doch der reiche junge Mann konnte sich nicht von seinen ­Besitztümern trennen und Jesus folgen. (Matthäus 19, 16-24). Er ent­deckte nie das Leben, das volle Leben, das er hätte haben können, wenn er Jesus gefolgt wäre. Oft ist es gerade der beschwerliche Weg, den wir nur ungern wählen - Regale auffüllen, harte Arbeit oder Putzen - den Christus für uns auserwählt hat und der für uns am besten wäre.

Auch Jesus erfuhr in seinem Leben und bei seiner Missionstätigkeit, bei seinem Wunsch, alle Menschen für sich zu gewinnen und die Welt zu retten, herbe Enttäuschungen. Vom jungen reichen Mann war ja schon die Rede, doch stellen Sie sich einmal vor, Sie predigen aus tiefstem Herzen über die Verbundenheit, die Sie gerne mit den Menschen hätten, und dann wenden sich die Massen von Ihnen ab, bis Sie sich schließlich sogar fragen, ob auch Ihre engsten Vertrauten wohl bleiben (Johannes 6,66).

Die neun Leprakranken kehrten nicht zurück zu Jesus, nachdem er ihnen geholfen hatte (Lukas 17,11-19), und andere Geheilte hielten sich nicht an sein Gebot, über ihre Heilung Stillschweigen zu bewahren (Markus 7,36).

Kein Diener kann sich über seinen Meister erheben - warum sollten uns diese Enttäuschungen also überraschen? Manchmal scheitert man häufiger, als man Erfolg hat. Meiner Erfahrung nach gibt es viel mehr Menschen, die sich niemals auf Jesus einlassen, als solche, die ernsthaft interessiert sind. Doch all diese Enttäuschungen und Schmerzen sind nichts gegen die seltene Freude, wenn ein Mensch Christus annimmt und bei ihm bleibt und seine Gnade Früchte tragen lässt.

Von euren Werken will ich hören,
vom Scheitern, Hoffen, Angst und Ehr;
auf jeder Seele, die zu Gott wir führen,
liegt tränennasser Lorbeer schwer.

Edward Henry Bickersteth

Zurück