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Nie zu alt

Kapitel 10 aus „Begegnung mit Jesus“

Einmal trat eine siebzigjährige Witwe unserem Über-60-Club bei. Sie war aus Essex hierhergezogen, um näher bei ihrer Tochter zu wohnen. Joan beschloss, dass sie sich ein neues, eigenes Leben aufbauen wollte. Sie ging zu verschiedenen sozialen Treffs in der Stadt und kam irgendwann auch zu uns. Nachdem sie einige der Mitglieder und der Besucher der Gemeinde kennengelernt hatte, kam sie auch zu den Gottesdiensten am Sonntagmorgen.

Ein paar Wochen später besuchten meine Frau und ich sie im Obergeschoss ihres Häuschens. Sie war eine liebenswürdige Frau und erzählte uns aus ihrem Leben. Schon vor ihrem Umzug war sie gläubige Christin gewesen und ging zur Kirche. Einige Jahre zuvor war bei ihr Parkinson festgestellt worden. Doch die Krankheit schritt nur langsam voran.

Erst bei den nachfolgenden Besuchen erfuhren wir, zu welcher Art von „Kirche“ sie früher gegangen war. Das war eine spiritistische „Kirche“ gewesen! Sie hatte zwar einen „Glauben“ an Jesus, doch in ihrer Trauer über den Verlust ihres Mannes hatte sie auch an spiritistischen Sitzungen teilgenommen.

Ich horchte lange in mein Herz hinein und betete. Schließlich beschloss ich, das Thema Spiritismus erst einmal auszuklammern und mich in unseren Gesprächen hauptsächlich auf Jesus zu konzentrieren. Joan brachte sich mehr und mehr im Korps ein, richtete sich ganz nach Jesus, blühte förmlich in Christus auf und entwickelte schließlich eine innige persönliche Beziehung zu ihm.

Am Anfang sprach sie mit einigen Gemeindemitgliedern noch offen über ihre spiritistischen Neigungen. Wir erfuhren davon, und einige Mitglieder baten mich, mit ihr über diese Ansichten zu sprechen, da sie nicht den Anschauungen wahrer Christen ent­sprächen und den Lehren der Bibel entgegengesetzt seien. Diese Angelegenheit musste natürlich irgendwann angesprochen werden. Doch bevor ich ihr die falschen Krücken wegnahm, wollte ich sichergehen, dass sie auch fest im Glauben an Christus stand.

Einige Zeit später besuchten wir Joan. Sie erzählte, wie sehr sie sich durch unsere Gemeinde verändert habe. Sie war sich nun ­sicher, dass Gott sie zum Leben als Heilssoldatin, als Mitglied unserer ­Gemeinschaft auserwählt hatte. Unsere Beziehung war mittlerweile sehr gut. Deshalb machte ich ihr jetzt auch deutlich, wie die Bibel zu ­jeglicher Form von Aberglauben und Spiritismus steht. Das war für sie schon längst kein Thema mehr. Selbst ihr waren Zweifel gekommen, und sie hatte schon länger nichts mehr damit am Hut.

Im gemeinsamen Gebet schwor sie allem ab, was ihr in dieser Richtung einmal so viel bedeutet hatte. Sie wolle sich außerdem noch mehr engagieren und sich ganz praktisch mit einbringen.

„Aber was kann ich alte, runzelige Siebzigjährige mit Parkinson schon tun?“, fragte sie. Sie war zwar schon siebzig, aber von „runzelig“ konnte keine Rede sein. Ich erklärte ihr, dass vor Gott alle Menschen gleich wichtig sind und wir alle eine ganz eigene Aufgabe zu erfüllen haben. Ganz gleich, wer wir sind. Jeder trägt mit dieser Aufgabe dazu bei, dass es dem gesamten Körper, also der Kirche, gutgeht. Judy und ich versicherten ihr, dass wir für sie beten würden. Und auch dafür, dass Gott deutlich offenbaren würde, welche Pläne er mit ihr hatte.

So begannen die Gebete für Joan. Obwohl sie schon siebzig und nicht mehr so mobil war, verbreitete sie im Korps Optimismus und Freude. Vergleichbar einer Lampe. Sie hatte immer aufmunternde Worte für jeden. Früher oder später würde Joan als Mitglied der Heilsarmee aufgenommen werden, das stand außer Frage. Doch auch nach Monaten voller Gebete, suchten wir immer noch nach Gottes besonderer Rolle für sie.

Nach meinem Gespräch vom Freitag mit Geoff in seiner neuen Wohnung, kam er am Sonntag das erste Mal zum Vormittagsgottesdienst und zwar alleine. Wegen ihrer fortschreitenden Erkrankung und eingeschränkten Beweglichkeit, war es für Joan sehr mühsam, zu den Gottesdiensten zu kommen. Daher pflegte sie jeweils nur für den Morgengottesdienst vorbeizukommen. Geoff saß im Mittelblock, nahe der Stirnseite des Saals, Joan nahm einige Reihen weiter hinten Platz.

Am Ende des Gottesdienstes begaben sich meine Frau und ich zum Saalausgang, um den Besuchern die Hand zu schütteln. Ich plauderte kurz mit einem Gemeindemitglied und ging mit ihm nach draußen. Als ich mich wieder zur Tür drehte, sah ich Joan hinauskommen. Sie war klein und gebrechlich und stützte sich auf ihren Gehstock. Doch sie hatte ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Sie ging links an mir vorbei und Geoff, der direkt hinter ihr war, gab mir die Hand und folgte ihr.

„Hey, Geoff, wo willst du denn hin? Du wohnst doch in der anderen Richtung“, scherzte ich.

Er drehte sich zu mir herum. „Ich geh‘ noch auf einen Kaffee mit zu Joan“, erzählte er lächelnd.

Er lief ihr hinterher und sie muss wohl gehört haben, dass er ihren Namen gesagt hatte. Jedenfalls drehte sie sich um und sah mir direkt in die Augen. Da begriff ich, dass Gott unsere Gebete erhört hatte. Das war also ihre Aufgabe, andere zu ermutigen und gastfreundlich zu sein. Ich zeigte ihr zwei Daumen nach oben und form­te still mit den Lippen ein „Ja. Auch sie hob den Daumen mit der freien Hand.

Geoff bemerkte das und schaute sich um, wem Joan denn da Zeichen gab. Ich hatte immer noch die Daumen oben. Er wusste ganz offensichtlich nicht, was hier vor sich ging. Und wahrscheinlich sah ich irgendwie verdächtig und idiotisch aus. Jedenfalls steckte ich schnell die Hände wieder in die Taschen. Später erfuhr ich, dass er dachte, zwischen mir und Joan würde so eine Art ­abgekartetes Spiel ablaufen. Als sie dann aber zusammen Kaffee tranken, wurde ihm klar, dass das natürlich Unsinn war. Er hatte Joan noch nie vorher getroffen und sie ihn auch nicht. Sie waren zu verschiedenen Gottesdiensten gegangen und niemand hatte geahnt, dass Geoff ausgerechnet an jenem Tag das erste Mal zum Morgengottesdienst kommen würde.

Im Gespräch mit Geoff merkte Joan, dass es ihn sehr nervös machte, der Gemeinde davon zu erzählen, wie Jesus sein Leben verändert hatte. Obwohl er mit meinem Vorschlag einverstanden gewesen war, seine Geschichte am Sonntagabend mit der ­Gemeinde zu teilen. Joan gab ihm Rückhalt und Zuversicht. Sie versicherte ihm, dass schon alles gut werden würde. Das wäre nur der Teufel, der ihn davon ­abhalten wolle, Jesus Christus zu ehren. Normalerweise ­würde sie aus gesundheitlichen Gründen immer nur Sonntagmorgens zu den Treffen gehen. Doch wenn es ihm ein Hilfe wäre, würde sie Geoff gerne begleiten.

Einige Wochen später erfuhr ich im Gespräch mit Joan, was sich gegen Ende jenes Sonntagmorgengottesdienstes zugetragen hatte. Sie hatte diesen riesigen Kerl mit den Ohrringen in der Mitte des Saals bemerkt. Sofort hatte sie das Bedürfnis gehabt, ihn anzu­sprechen. Obwohl sie ihn doch gar nicht kannte und nichts über ihn wusste. Sie sei förmlich zu ihm „herübergeschwebt“! Geoff war 46, ein großer Kerl voller Tattoos. Er war wenige Wochen zuvor, als ich ihn kennenlernte, noch ein hartgesottener Säufer und Schlägertyp gewesen. Er hatte seine Probleme immer mit den Fäusten gelöst. Und seit 25 Jahren war er Alkoholiker gewesen. Was für eine mutige Frau Joan doch war!

An jenem Abend sah ich vom Podium aus Geoff unter den ­Gemeindemitgliedern. Er war zusammen mit Alan, der auch schon an den Sonntagabenden dabei gewesen war. Außerdem war auch Fred von der Partie, Geoffs bester Kumpel aus dem Obdachlosenheim, ebenfalls Alkoholiker. Und dazwischen sass die zierliche Joan. Das war schon ein seltsamer Anblick. Es hatte etwas von ­einem ­matriarchalischen Mafia-Clan -Mama mit ihren Jungs! Ganz besonders freute mich die Anwesenheit von Fred. Wie ich später erfuhr, war er aus zwei Gründen gekommen. Erstens konnte er gar nicht fassen, wie sehr Geoff sich verändert hatte, und was in den vergangenen Wochen mit ihm geschehen war. Zweitens konnte er sich nicht ­vorstellen, dass irgendeine Kirche einen Typen wie Geoff zum Reden auf die Kanzel bitten würde.

Die Gemeinde war sehr berührt von Geoffs Geschichte, als er ihnen am Abend die halbe Bibel zeigte, die er an jenem Dienstagmorgen im Dartzimmer entdeckt hatte und erzählte, was ihm seit der Lektüre passiert war. Seine Trunksucht hatte seine Ehe kaputtgemacht. Er hatte seine Frau und seine drei Kinder verloren. Der Alko­hol hatte sein Leben und das der Menschen, die er liebte, zerstört.

Am Ende der Zusammenkunft sagte ich das letzte Lied an. Alle standen auf und sangen inbrünstig. Alle, außer Fred, Geoffs Kumpel. Ich beobachtete ihn. Er stand ganz starr und still da. Und dann, bei der letzten Zeile, stand er auf und verließ den Saal.

„Warum bloß?“, fragte ich mich.

*               *               *

Geoff ist mittlerweile seit elf Jahren trocken. Seine Veränderung war so außergewöhnlich, dass sogar einige Mitarbeiter und Bewohner des Heims zur Zeremonie kamen, als er offiziell zum Heilssoldaten ernannt wurde. Über mehrere Jahre predigte er in einem ­nahegelegenen Gefängnis zu den Insassen. Dann lernte er seine jetzige Frau, eine ­liebe, gläubige Christin, kennen. Er zog in eine nahegelegene Stadt, bevor er einige Jahre später weiter wegzog. Es berührt mich noch heute zutiefst, wenn ich an ihn denke oder mit ihm rede. Es ist immer noch schwer zu glauben, dass er derselbe Mann ist, den ich damals traf. Vielleicht, weil er nicht mehr Derselbe ist!

Obwohl sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechterte, lud Joan auch weiterhin die Männer aus dem Obdachlosenheim, die unser Korps besuchten, zu sich nach Hause ein. Sie konnte immer schlechter laufen und brauchte schließlich ein Elektromobil. Erst als sie in ein Seniorenheim zog, endete ihre Arbeit für die Gemeinde. Doch auch dort war sie ein Leuchtturm des Herrn. Für die Mitarbeiter und auch für die Bewohner, bevor der Herr sie schließlich zu sich nahm. Trotz all ihres Leids und ihrer Schwierigkeiten war sie stets fest im Glauben und ihr guter Einfluss auf die Männer lebt bis heute fort.

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