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Zögerndes Bekenntnis

Kapitel 3 aus „Begegnung mit Jesus“

Während eines unserer Gottesdienste unter freiem Himmel, bei dem ich von Tür zu Tür ging, musste ich feststellen, dass entweder niemand aufmachte, oder die Bewohner nicht mit mir reden wollten. Ich machte mich also auf den Weg zurück dahin, wo die Musik spielte. Wirklich niemand hatte sich mit mir unterhalten wollen. Ich war ­erschöpft und wollte einfach nur noch zu Abend essen. Auf der Straße stand ein großer, offener Müllcontainer. Auf einmal sah ich, wie eine Ratte, oder vielleicht eine kleine Katze, auf dem Rand balancierte! Ich konnte gar nicht mehr wegsehen. „Was kann das nur sein?“, fragte ich mich. Es war jedoch der Haarschopf einer kleinen, etwa siebzigjährigen Frau, die neben dem Container auf die Straße trat, dort stehenblieb, und das Treiben ringsum verfolgte.

Mein Gefühl sagte mir, ich solle sie in Ruhe lassen, doch ich fühl­te auch den Drang, sie anzusprechen. Ich schob den Gedanken beiseite, doch plötzlich schoss es mir durch den Kopf: „Was, wenn das ewige Schicksal dieser Frau davon abhängt, dass du sie jetzt ansprichst?“ Ich ignorierte dieses mentale Melodrama, obwohl der Gedanke vielleicht nicht ganz unberechtigt war.

Der Drang wollte aber einfach nicht nachlassen. So ging ich zögerlich zu ihr hin und sprach sie an. Sie war, wie ich erfuhr, verwitwet und lebte in einem Haus in der Nebenstraße und war gerade auf dem Heimweg zum Essen. Ich wollte wissen, ob sie eines unserer Mitglieder kannte, das gegenüber von ihr auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie verneinte das und ich bot an, ihr die Dame von gegenüber vorzustellen, eine sehr liebenswerte Frau. Sie stimm­te zu. Wir verließen den Gottesdienst und gingen die wenigen Meter zu ­Queenie Hancocks Haus und klopften. Queenie, auch verwitwet und um die siebzig, ­öffnete die Tür in einer Schürze. Sie machte wohl gerade Abendbrot und entschuldigte sich sofort bei mir, dass sie nicht beim Gottesdienst im Freien mitmachte - sie nahm aber ohnehin nie an solchen Veranstaltungen teil, ich hätte das auch nie von ihr erwartet. Die zierliche Vera neben mir hatte sie da noch gar nicht bemerkt.

„Queenie, du bist schon über siebzig, da erwartet doch niemand von dir, dass du lange in der Kälte herumstehst. Das ist Vera, sie wohnt im Haus Nummer Drei. Sie hat unseren Gottesdienst ganz interessiert verfolgt, und als sie mir erzählte, wo sie wohnt, habe ich sie gefragt, ob sie dich vielleicht kennt. Sie meinte nein, und da habe ich ihr erzählt, was für eine nette Dame du bist und ob sie dich nicht gerne kennenlernen würde. Sie meinte: ‚Ja, sehr gerne‘, und da sind wir nun also.“

Queenies Antwort war ein echter Segen. „Möchten Sie nicht auf eine Tasse Kaffee reinkommen, Vera?“

Mir war klar, dass wir sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt hatten. Sie wollte eigentlich gerade essen, ließ aber in ihrer Gastfreundschaft für Vera alles stehen und liegen. Vera ging hinein, drehte sich noch einmal um, dankte mir und schloss dann die Tür hinter sich.

Ich habe ihre Unterhaltung natürlich nicht mitgehört und Queenie war nicht besonders engagiert, was die Weitergabe des Evangeliums anging. Sie bezeichnete sich selbst als ganz normal, nichts Besonderes, obwohl ich meiner Gemeinde nur allzu oft predigte, dass sie alle etwas Besonderes waren. Sie hielt sich für gewöhnlich eher im Hintergrund, war freundlich und half bei den morgendlichen Kaffeetreffen oder bei den Mahlzeiten im Korps. Als ich jedoch am selben Abend beim Gottesdienst aufs Podium stieg, sah ich sie dort mit Vera sitzen. Sie hatte Vera zum Abendgottesdienst mitgenommen.
In meiner Predigt sprach ich über Gottes Liebe durch Jesus ­Christus und über sein unfassbar großes Opfer am Kreuz, durch das wir alle Vergebung erfahren dürfen. Dann ließ ich einen Aufruf an alle folgen, die Gottes Vergebung noch nicht erfahren hatten. Die zierliche Vera ließ sich nicht zweimal bitten. Sie kam sofort nach vorne, kniete vorne an der Bank vor Gott nieder und wurde an diesem Abend errettet.

Sie erzählte später noch oft, wie dieser Tag ihr ganzes Leben verändert hatte und wie sie diese Chance um ein Haar verpasst hätte. Auch ich frage mich, wie viele andere Gelegenheiten ich wohl verpasst hatte: Gelegenheiten, die mir förmlich ins Gesicht sprangen, Gelegenheiten, die ich vielleicht nicht gesehen, oder die ich aus Zögerlichkeit schlichtweg nicht wahrgenommen hatte.

Natürlich sind wir alle auch nur Menschen, wir irren uns und fallen auf die Nase, aber ich denke, dass wir uns viel zu oft Sorgen über uns selbst machen. Mögen wir häufiger den Mut aufbringen, falsch zu liegen und zu versagen. Ich bin überzeugt, dass Gott uns alle - als Einzelpersonen und als Kirche - immer wieder in tiefe, unbekannte Gewässer führt. Nur allzu oft haben wir Angst, das flache Wasser zu verlassen und in einen unbekannten Ozean hinauszuschwimmen. Nun, davon handelt diese Geschichte.

Vorne in unseren Gemeindesälen steht eine lange Bank, die es so nur bei der Heilsarmee gibt. Diese wird Bussbank oder Gnadenthron oder auch Gebetsbank genannt. Die Bezeichnung „Gnadenthron“ bezieht sich hierbei auf den goldenen „Gnadensitz“, den Deckel der Bundeslade, wie er in 2. Mose 25,22 (Lutherbibel) beschrieben wird, als Gott spricht: Dort will ich dir begegnen und mit dir reden von dem Gnadenstuhl aus [...].“ Wenn ein Heilsarmee-Offizier die Gottesdienstbesucher aufruft, vor der Gemeinde Gott zu suchen oder Gott zu antworten, dann sind diese eingeladen, nach vorne zu kommen und vor Gott niederzuknien. In dieser demütigen Haltung stellt sich auch oft die richtige Geisteshaltung ein, und das Herz wird vor Gott reuig und bescheiden. Dabei handelt es sich nur um ein einfaches Möbelstück. Wir von der Heilsarmee glauben nicht, dass diese Bank irgendwelche besonderen Kräfte hat. Tatsächlich könnte man auch jeden beliebigen Stuhl nehmen.

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