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Zwischen Konservatismus und Revolution

Umgang mit Veränderungen

Wie die meisten Menschen verbindet auch mich eine gewisse Hassliebe mit Veränderungen und Innovationen. Manche Leute erwarten von mir, dass ich als Künstler eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung und kultureller Revolution verkörpere. Teilweise stimmt das ja auch. Aber ich glaube, die Leute wären überrascht, meinen spießigen Kern zu entdecken. Einerseits bin ich ständig dabei, neue Ideen zu entwickeln, umzusetzen und auszuführen, andererseits finde ich die meisten Inspirationen in der Vergangenheit. Ich choreografiere regelmäßig neue Tanzstücke, doch ich liebe es auch, 200 Jahre alte Ballettstücke anzuschauen. Durch die Arbeit von The Limelight Collective definiere ich fast völlig neu, wie der Dienst der Heilsarmee in Deutschland aussehen kann, empfinde mich dabei aber zutiefst verwurzelt in den Idealen und Vorgehensweisen unserer Gründer.

„Warum kann es nicht so bleiben?“

In dieser Spannung zwischen Konservatismus und Revolution lebe ich schon seit einiger Zeit. Ich erinnere mich an ein schwach beleuchtetes Parkhaus in Melbourne, die Reifen unseres Autos quietschen auf der glatten Betonoberfläche der spiralförmigen Rampe. Auf den vorderen Sitzen unterhalten sich meine Eltern über umstrittene und besonders schmerzhafte Veränderungen, die gerade in unserem Korps und überall im Territorium vor sich gehen. Es ist Mitte der 1990er-Jahre und die sogenannten „Worship Wars“ (Auseinandersetzungen über Gottesdienstgestaltung) erreichen in Australien gerade einen Höhepunkt. Schon als Zehnjähriger misstraue ich dem offenen Meer an Möglichkeiten, das Gitarren, Tageslichtprojektoren und ein unaufhaltsamer Strom an Hillsong-Alben darstellen. Dagegen schätze ich den sicheren Hafen der Blaskapellen, Chöre, Tamburine und muffigen Liederbücher. „Warum kann es nicht einfach bleiben, wie es ist?!“, platze ich heraus. „Mir gefällt es so, mit dem Musikkorps und den Liederbüchern.”

Als Offizierskind war ich es gewohnt, immer wieder die Schule, die Wohnung und das Korps zu wechseln. Die eine Konstante in meinem Leben außerhalb meiner Familie war die Heilsarmee-Kultur. Dass sich nun auch hier etwas veränderte, erschütterte mich zutiefst.

Ein Haus, ein Korps und zwei Schulen später war ich gerade Korpskadett geworden. Ohne Vorwarnung kündigte der Jugendsergeantmajor an, dass das Korps sowohl das Korpskadetten-Programm als auch die Jugendgruppe einstellen und sie durch einen wöchentlichen Lobpreis- und Bibelabend für Teens ersetzen würde, der einen eingängigen, coolen Namen bekam. Wieder war ich untröstlich und meine Beteiligung an dem neuen Programm war von Bitterkeit geprägt. Irgendwann wechselte ich in ein anderes Korps.

Wenn ich heute auf mein jüngeres Ich zurückschaue, kann ich mit meiner jugendlichen Naivität ganz barmherzig umgehen. Ich hatte das, was mir gefiel, mit dem verwechselt, was wirkungsvoll für den Auftrag der Heilsarmee war. Ich hatte vergessen, dass die Heilsarmee nicht für das Vergnügen ihrer Mitglieder existiert, sondern für die Rettung der Welt.

Kulturelle Anpassung und Alltagsrelevanz

In meinen späteren Teenagerjahren wurde mir die breite Kluft zwischen unserer internen Heilsarmeekultur und der Kultur der übrigen Welt schmerzlich bewusst. Durch Besuche und längere Aufenthalte in verschiedenen Ländern weltweit habe ich hautnah erfahren, wie wichtig kulturelle Anpassung und Alltagsrelevanz sind. Wie viel mehr sollten wir darauf achten, dass wir der Welt das Evangelium auf eine Weise verkündigen, die sie versteht.

Das ist der Kern der Heilsarmee-Methodik, der Gedanke, aus dem unsere Bewegung entstanden ist. Die Booths und ihre Mitstreiter erkannten, dass die meisten Leute, die nicht in die Kirche gehen, auch keine Kirchen mögen, und so machten sie ihre Säle den Kirchen möglichst unähnlich. Es war damals ein Skandal, dass sie ihre Räume wie Theater und Konzerthallen gestalteten, Orte, an die Menschen gerne gehen. Sie richteten ihre Musik nach dem Geschmack der einfachen Arbeiter aus. Technische Neuerungen wie das Fahrrad und das Automobil bezogen sie rasch mit ein. Sie waren führend bei Innovationen im Bereich von Unterhaltungs- und Medienformaten, schufen die erste abendfüllende Filmvorführung der Welt und begründeten damit letztlich die Filmindustrie in Australien. Alles an der Art und Weise, wie die Kirche der Welt begegnet, war verhandelbar.

Die Gegenwart stören

Ein derart revolutionäres Verhalten war verständlicherweise schmerzlich und verwirrend. Catherine Booth schreibt von ihrem Trauerprozess über die methodistischen Gebräuche, mit denen sie aufgewachsen war. Schließlich habe sie akzeptiert, dass diese ersetzt werden mussten, da sie ihren Zweck nicht mehr erfüllten. Später sagte sie bekanntlich: „Wer die Zukunft verändern will, muss die Gegenwart stören.“

„Wer die Zukunft verändern will, muss die Gegenwart stören, und die Schwierigkeit besteht darin, die Menschen dazu zu bringen, dass sie sich stören lassen! Wir sind von Natur aus so konservativ – besonders manche von uns. Tief verwurzelt in uns ist die Abneigung dagegen, dass irgendetwas entwurzelt, durcheinandergebracht oder umgeworfen wird. Doch es ist genauso das Werk Gottes, ‚auszureißen, einzureißen und zu zerstören‘ wie ‚zu bauen und zu pflanzen‘; und Gottes wahre Botschafter haben häufig genauso viel von dieser Arbeit zu tun wie von der anderen. Das ist keine angenehme Aufgabe ...”

Catherine Booth

„Störend” beschreibt sehr treffend den Schmerz und das Unbehagen angesichts von Veränderungen und unseren natürlichen Widerstand dagegen. Veränderungen bringen Unsicherheit und Gefahren mit sich, sie können verwirrend und traumatisch sein. Dann haben wir manchmal das Gefühl, hilflos auf einem Meer der Möglichkeiten zu treiben und nicht zu wissen, wo Land ist. Ein guter Grund, sich an dem festzuhalten, was wir kennen. Eine plausible Erklärung dafür, warum viele der ursprünglichen Innovationen der Heilsarmee zwar längst veraltet sind, aber dennoch mehr als ein Jahrhundert später in der Heilsarmee von 2019 noch immer zu Hause sind – es ist leichter, eine bestimmte Neuerung anzunehmen als den beständigen Wandel.

Erdung und Balance

Viele Menschen meinen, dass Tanzen – insbesondere Ballett – etwas mit Leichtfüßigkeit zu tun habe. Tatsächlich verhält es sich aber in der Regel umgekehrt: Tänzer brauchen eine starke Verbindung zum Boden, eine gewisse Erdung. Um die Freiheit zu anmutiger Bewegung zu haben, müssen sie ihren Schwerpunkt genau kennen. Das ist ein schönes Bild dafür, wie wir angesichts beständiger Neuerungen belastbar sein können. Als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam, war ich zum ersten Mal weg von zu Hause. Ich hatte hier keine Familie, keine Freunde, nicht viel Geld, ich konnte kein Deutsch ... aber ich hatte meine Bibel, und nie habe ich mich stärker an ihr festgehalten als in dieser Zeit des enormen persönlichen Umbruchs. Ich wusste, auf welchen Felsen ich mein Leben gebaut hatte, ich wusste, worauf mein Gewicht ruhte, und so war ich in der Lage, mich frei und freundlich zu bewegen. Ich bin überzeugt: Wenn wir wissen, wer wir in Christus Jesus sind, und darauf vertrauen, dass er uns sicher hindurchführt, können wir uns jeder Veränderung stellen, wie schmerzlich oder verwirrend sie auch sein mag.

Mut zur Veränderung

Meine Eltern haben einen großen Teil ihres Offiziersdienstes mit Drogenabhängigen gearbeitet. Dabei haben sie unter anderem beobachtet, dass wir uns nur dann verändern, wenn der Schmerz, sich zu verändern, geringer ist als der Schmerz, so zu bleiben. Die Bibel bestätigt das durch Gottes Beziehung zu seinem Volk im Alten Testament. Trotz der wiederholten Warnungen der Propheten kehrten die Israeliten immer wieder erst dann zu Gott zurück, nachdem er sie in Situationen gestellt hatte, die unangenehmer waren als Buße zu tun. Im sechsten Kapitel des Propheten Jeremia bestraft Gott sein Volk, weil es sich hartnäckig weigerte, zu ihm umzukehren, und sich am Status quo festklammerte. In Vers 16 sagt er:

„Tretet hin an die Wege und schaut
und fragt nach den Wegen der Vorzeit,
welches der gute Weg sei, und wandelt darin,
so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele ...“
Jeremia 6,16

Ich glaube, dass Gott uns Salutisten immer wieder zu unseren „Wegen der Vorzeit” zurückruft, unserer heiligen Kreativität, unserer Bereitschaft, unser Möglichstes zu tun, um das Evangelium besser zu kommunizieren. Als Menschen, die sich in Gottes Auftrag in der Welt engagieren, tun wir gut daran, die Krisen zu beachten, in denen wir uns befinden, und sie als Warnung zu erkennen, etwas zu verändern – je größer die Krise, desto größer die Veränderungen. Wenn wir erleben, wie ungemütlich es ist, sich mit einer unheilen Welt zu befassen, wollen wir uns daran erinnern, was Gott seinen Kämpfern immer wieder geboten hat: „Sei stark und mutig.“

Shaw Coleman
leitet „The Limelight Collective“,
ein Projekt der Heilsarmee in Berlin.

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